Am 28. April 2021 lotete das erste Hybrid-Symposium des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee die verschiedenen Dimensionen des komplexen Phänomens von psychischen Erkrankungen und Gewalt aus und griff damit ein für unterschiedliche Berufsgruppen höchst relevantes Thema auf. Über 240 angemeldete Teilnehmer aus verschiedenen Bereichen verfolgten das per Livestream übertragene Symposium an den Bildschirmen und vor Ort.
In ihrer Eröffnung skizzierte Dr. med. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee und wissenschaftliche Leiterin der Fachveranstaltung, die tägliche Herausforderung psychiatrischer Kliniken, krankheitsbedingter Aggression mit weniger Zwang zu begegnen und gleichzeitig Mitarbeiter zu schützen.
Abbau stationärer psychiatrischer Betten hat Versorgung verändert
Professor Dr. med. Hans Schanda, ehemaliger Ärztlicher Leiter der österreichischen Justizanstalt Göllersdorf, führte aus, dass nur für eine kleine Gruppe psychisch Erkrankter ein erhöhtes Risiko besteht, gewalttätig zu werden. Diese schweren Gewalttaten seien selten und über die Zeit stabil geblieben. Gleichzeitig hätten sich mit dem Abbau stationärer psychiatrischer Betten in den letzten 30 Jahren jedoch wesentliche Aspekte in der Versorgung von Menschen mit Psychosen verändert: Die Zuweisungen in den Maßregelvollzug seien stark angestiegen, die Zahlen psychisch Erkrankter unter den Obdachlosen nehmen zu, Schizophrene werden seltener als früher behandelt. Die vier Prinzipien in der Behandlung – Autonomie, Fürsorge, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit – hätten sich zugunsten der Autonomie verschoben. Bei krankheitsbedingt fehlender Autonomie schade dies dem Patienten.
Aggressives Verhalten als Krankheitssymptom
Professor Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm, fokussierte sich auf die aktuelle S3-Leitlinie zur „Verhinderung von Zwang" und damit auf die Therapie aggressiven Verhaltens. Das aggressive Verhalten müsse Krankheitssymptom und behandelbar sein. Erst dann könne die Indikation zur Aufnahme in das psychiatrische Versorgungssystem gestellt werden. Risikofaktoren für aggressives Verhalten von Patienten sollten systematisch erfasst werden. Zudem sollten Aggressions-Management-Trainings (unter Einbezug von Deeskalation und Begrenzung) angeboten werden.
Der Einweisung in den Maßregelvollzug gehen oft langjährige Krankheitsverläufe voraus
Jutta Muysers, Ärztliche Direktorin der LVR-Klinik Langenfeld, referierte über die Behandlung psychisch erkrankter Straftäter. Bei im Maßregelvollzug behandelten Patienten mit Psychosen handele es sich um chronisch paranoid-halluzinatorische Verläufe mit fehlender Krankheitseinsicht, denen oft viele Jahre ohne Straftaten vorausgingen. Aggressionsdelikte entstünden aus paranoidem Erleben und fänden meist im persönlichen Umfeld statt. Eine Suchtmittelproblematik erhöhe die Gewalttätigkeit. Die Behandlung umfasse unter anderem die medikamentöse Einstellung und die Rehabilitation in das soziale Netz. Jutta Muysers empfiehlt die Nutzung der Risikoanalyse und den Aufbau von Präventionsambulanzen.
Auch bei Angeboten sozialer Teilhabe ist Gewalt ein Thema
Professor Dr. Ingmar Steinhart, Psychologe und Vorstand der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, konzentrierte sich auf Leistungsangebote der sozialen Teilhabe und ihre Grenzen für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Auch in den vielen verschiedenen Angeboten der sozialen Teilhabe sei Gewalt ein ständiger Begleiter, auch hier müsse der Umgang damit künftig professionalisiert werden. Geschätzt würden aktuell zwei bis vier geschlossene Plätze pro 100.000 Einwohner benötigt. Bei Entlassungen aus diesem Bereich fehlten oft die geeigneten Anschlussangebote, insbesondere für Patienten mit Mehrfachdiagnosen.
Safewards-Konzept als Lösungsansatz im stationären Bereich
Professor Dr. Michael Löhr, Pflegedirektor am LWL-Klinikum Gütersloh, betonte die Wirksamkeit des Safewards-Konzeptes, einer komplexen Intervention, die Konflikte, Gewalt und Eindämmungsmaßnahmen vermeiden soll. Überbelegung, ein verwahrlostes Ambiente, manche Stationsregeln, Eigenschaften von Mitarbeitern und Patienten beispielsweise förderten Aggressivität auf psychiatrischen Stationen. Mit Safewards würden diese Themen angegangen, der Beziehungsaspekt würde gestärkt. „Mit Safewards kann Psychiatrie wieder Spaß machen, und man sieht, dass konzeptionelles Arbeiten in der Psychiatrie möglich ist."
Das Hybrid-Symposium zeichnete die Psychiatrie als politisches Fach, das mit aktuellen Leitlinien, konzeptionellem Vorgehen, hohem persönlichen Engagement aller Berufsgruppen und in enger Zusammenarbeit mit außerklinischen Angeboten intensiv daran arbeitet, die Aggressivität, die mit einigen schweren Erkrankungen eng verknüpft ist, in der klinischen Arbeit auf das Notwendigste zu beschränken.
Dr. med. Uta Schannewitzky, Oberärztin, Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee
Unter der Rubrik Fachbesucher auf der Website des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Weißensee findet sich eine eigene Seite zum Hybrid-Symposium. Hier finden Sie das Programm, die Präsentationen der Referenten sowie die Aufzeichnung des Livestreams.